Freitag, 9.Juni 2023

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Reiner Kunze feiert am 16. August seinen 85. Geburstag.
Er war als junger Mann in die SED eingetreten und hatte in Leipzig Philisophie und Journalistik studiert. Als Assistent an der Journalisik-Fakultät kam es zu politischen Auseinandersetzungen, die ihn bewogen, die Universitätslaufbahn zu beenden. 1961 heiratete er die tschechische Kierferorthopädin Elisabeth Littnerová und beide zogen 1962 nach Greiz. Reiner Kunze übersetzte tschechische Lyrik und wurde als Dichter bekannt. Die SED-Kulturpolitik unterstützte ihn jedoch nicht und dach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag trat er aus der SED aus. Nun wurde er von der SED als möglicher Feind behandelt. Sein Kurzprosa-Band "Die wunderbaren Jahre" (1976) deckte die Verlogenheit der SED-Diktatur auf, nun wurde er zum Feind erklärt. Es folgten Drangsalierungen, die sowohl ihn aber auch seine Ehefrau Elisabeth und die Tochter Marcela betrafen. Bei einer Vernehmung wurde ihnen ein Autounfall vorhergesagt. 1977 stellte die Familie einen Ausreiseantrag und verlies wenig später die DDR.
In den letzten Tagen wurde mehrfach auf die mangelnde Anerkennung der Lebensleistung von politischen Häftlingen und Opfern der SED-Staats-Zersetzung verwiesen. Viele der Betroffenen, die vor Ende der SED-Herrschaft in die Bundesrepublik kamen, erlebten diese Nichtanerkennung schon „im Westen“ und mussten dann beobachten, dass führende Genossen wie Markus Wolf und Gregor Gysi hofiert wurden. Ilko-Sascha Kowalczuk spricht in diesem Zusammenhang von einer „unglaublichen Wut, die man ernst nehmen sollte (Interview mit Markus Decker zum 57. Jahrestag des Mauerbaus, in Berliner Zeitung am 13.08.2018).
Reiner Kunze beschrieb 2009 unter dem Titel „Wenn wieder eine Wende kommt“ seine Erfahrung der Zersetzung durch die SED in der DDR bis hin zu der nach seiner Ausreise in der bundesdeutschen Gesellschaft, wo die SED offenkundig viele Unterstützer fand. An vielen konkreten Beispielen machte er deutlich, der SED-Terror wirkt weit über die SED-Herrschaft hinaus. 2009 beendete Reiner Kunze seine Rede programmatisch:
„Geschichte wiederholt sich nicht, heißt es, aber es gibt Ideologien, deren die Menschheit nie Herr werden wird, und der Weg von der Demokratie in die Diktatur kann demokratisch sein. Möge uns die Freiheit erhalten bleiben und in der Freiheit die Humanität.“

 


Anlässlich des 40. Jahrestags der Vertreibung der Familie Kunze aus Thüringen luden der Thüringer Landtagspräsident und der Landesbeauftragte im April 2017 die Betroffenen, Freunde und weitere Thüringer, die ein ähnliches Schicksal erleiden mussten zu einer Feier unter dem Motto „Zurückgewonnene Heimat“ in den Thüringer Landtag. An diesem Abend wiederholte der Reiner Kunze seine Beobachtung: der Mensch ist verführbar, „Holocaust oder stalinistischer Terror sind für die Zukunft nicht auszuschließen“. Dann sagte er: „Meine kleine Danklesung geht nicht in die Vergangenheit sondern in die Zukunft.“ Er las Kindergedichte und ein Märchen (Film von der Veranstaltung, hier ab 42:00). An diesem Abend war es, wie Superintendent Ralf-Peter Fuchs es anlässlich einer Lesung in Greiz im Mai 2011 beschrieb: „So viele haben gegen ihn gestritten in den Jahrzehnten. Und all die Waffen der Sprache, die man gegen ihn gewandt hat, die Sprache der Demagogie, die Sprache der Arroganz, die Sprache der Verführung. Er läßt sie alle liegen. Er bekämpft die Ideologien nicht mit einer neuen Ideologie. Er bekämpft überhaupt nicht. Kunze zeigt – so konkret es irgend geht. Und allein darin liegt ein großes Vertrauen zum Menschen, dass ein Mensch, wenn er mit wachen Augen zu sehen lernt, auch mit wachem Verstand denken wird. […]. Und man schaut durch die Jahrzehnte uns siehe da, all die Kaiser haben plötzlich keine Kleider mehr an, schon gar keine neuen, und verstecken verschämt ihre Blöße. Reiner Kunze aber verneigt sich leise – und ist ein Augenblick lang wie ein Kind aus jenem Märchen.“

Als der Landesbeauftragte Reiner Kunze anlässlich seiner „Rückholung nach Thüringen“ fragte, ob er eine Rede halten möchte, antwortete er: Ich brauche immer mehr Zeit für die Dinge, die ich tue.
Zu seinem 85. Geburtstag hat er ein Bändchen veröffentlicht: „die stunde mit dir selbst. Gedichte“ (S. Fischer 2018).
Es ist ein Abschied von der Bühne, vom Kurzzeitgedächtnis, von der Sprachmacht, von der Angst, von vielen Freunden:
fern
Unser Land verdankt Reiner Kunze viel. Nachdem er aus der SED ausgetreten war und zum freischaffenden Schriftsteller und vor allem Übersetzer geworden war schrieb er an seine gleichaltrige Kollegin Brigitte Reimann: „So gut wie möglich Kunst (Literatur) machen, Brigitte, das ist uns aufgetragen, keinen anderen Weg gibt es für uns (Dich, mich und einige andere.)“ (1972). Genau das tat er. Es waren seine Gedichte, die wie Kassiber in der DDR weitergereicht und vielfältig abgeschrieben wurden. Gedichte, die noch in der DDR erschienen wie Sensible Wege (1966)
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aber noch mehr Texte, die nur außerhalb der DDR veröffentlicht werden konnten. Das Buch „Die wunderbaren Jahre“ (1976) wurden in der DDR vielfach abfotografiert und abgeschrieben. Es gab einer Generation kritischer Jugendliche eine eigene Sprache und Identität. Heute gibt es eine umfangreiche Sammlung dieser Rezeptionszeugnisse bei der Reiner und Elisabeth Kunze Stiftung"

(Beispiel einer Kopie der maschinenschriftlichen Abschrift, die im Januar 1989 bei einer Hausdurchsuchg beschlagnahmt wurde. Die Eigentümerin wurde nach internationalen Protesten aus der Haft entlassen und bekam die Wunderbaren Jahre zurück. Inzwischen hatte die Staatssicherheit darauf vermerkt "vernicht[en]").
In der Bundesrepublik entstanden Gedichte, die eine große Verbreitung fanden.

1990 wurde Reiner Kunze zu einem Vorreiter und Mentor der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sein Buch "Deckname " „Deckname „Lyrik“. Eine Dokumentation.“ war eine der ersten Auseinandersetzungen mit den Methoden der Zersetzung anhand von Stasi-Akten.
Sein Gedicht DIE MAUER resümierte kurz darauf diesen Weg der Neugründung Deutschlands:

mauer
Als ehemalige Häftlinge, Vereine und die Landesbeauftragte den Abriss der Stasiuntersuchungshaftanstalt in Erfurt verhinderten und sich für die Entwicklung einer Gedenkstätte einsetzten, die letztlich vor fünf Jahren zur Gedenk- und Biuldungsstätte Andreasstraße führte, kam Reiner Kunze aus der Nähe Passaus und unterstützte das Projekt.
Zum 80. Geburtstag schrieb Udo Scheer mit Unterstützung der Thüringer Landesbeauftragten die Biografie „Dichter sein: Reiner Kunze“ (Mitteldeutscher Verlag 2013/14). Udo Scheer hatte sich 1977 – so wie Christoph Eisenhuth - geweigert, für den Ausschluss von Reiner Kunze aus dem DDR-Schriftstellerverband zu stimmen. Damit hatte er selbst keine Möglichkeit DDR-Schriftsteller zu werden. Er weiß sehr anschaulich zu erzählen, wie folgenreich Freundschaften mit der Familie Kunze von der SED verfolgt wurden. So schrieb Utz Rachowski am Tag nach der Ausreise der Familie Kunze
THÜRINGISCHE LEGENDE
Einen hat man vertrieben,
dem zog der Jasmin nach.
Er ließ aber noch stejen
ein Glas Tee aus Schweigen,
das keiner mehr auszutrinken
Zeit fand, bevor es bitter war.
Aus diesem Trauergedicht machte die Stasi dann „Staatsfeindliche Hetze“, was als Inhaftierungsgrund ausreichte.
Es war nicht vergeblich, so sagt es Utz Rachowski heute. Doch ohne den Menschen Reiner Kunze und ohne seine klaren Worte wäre vieles in dunkler Zeit nicht klargeworden, und als es möglich wurde an Verrat nicht auf den Tisch gekommen, wären einige nicht getröstet und mancher nicht in seiner Menschlichkeit bestärkt worden. Dafür ist ihm danke zu sagen! 
Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts schrieb Reiner Kunze dann den „Vers zur Jahrtausendwende“: Dieses Gedicht soll das letzte Wort sein zur Ehre des Mitmenschen und Dichter Reiner Kunze:
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Thüringer Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (ThLA)

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Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur trägt zur umfassenden Aufarbeitung von Ursachen, Geschichte und Folgen der Diktatur in der SBZ und in der DDR bei.

www.bundesstiftung-aufarbeitung.de

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Der Bundesbeauftragte
für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik

www.BStU.bund.de

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