Der Landesbeauftragte Christian Dietrich erinnert sich: Anfang 1988 besuchte ich den Philosophen und Mitbegründer der Charta 77 Jiří Dienstbier. Seit seiner Haftentlassung 1982 arbeitete er nachts als Heizer und schrieb wertvolle Beiträge im Samisdat zur Überwindung der kommunistischen Diktatur. Ich bat ihn um einen Beitrag für die in der DDR unter schwierigsten Umständen herausgegebene Samisdat-Zeitschrift OSTKREUZ. Anlass war der 20. Jahrestags der Niederschlagung des Prager Frühlings. „Was hat der Widerstand gegen die Normalisierung seit August 1968 gebracht?“ Zur gleichen Zeit formulierten Bürgerrechtler aus Ungarn, der CSSR und der DDR (dabei u.a. Miklós Haraszti, Petr Uhl und Gerd Poppe) eine gemeinsame Erklärung, wie sie es schon zum 30. Jahrestag der Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstandes im Jahre 1986 getan hatten. Dann kam der 21. August 1988 und erstmals gab es wieder Massenproteste in Prag. Das Motto der Demonstrationen war: DIE WAHRHEIT WIRD SIEGEN. Aus dem Rückblick kann man sagen, mit diesen Demonstrationen begann die Samtenen Revolution.
Noch während der Widerstand gewaltsam gebrochen und Demonstranten inhaftiert wurden, schrieb Jiří Dienstbier im September 1988:
„Kürzlich zeigte sich der Wille nach Herstellung einer wirklichen Normalität in der Gesellschaft bei einer ruhigen und würdevollen Demonstration zum zwanzigsten Jahrestag der sowjetischen Invasion, dem größten politischen öffentlichen Auftritt seit dem Jahre 1969. Es wurde keine einzige destruktive Losung gezeigt. Die Demonstranten forderten den Abzug sowjetischer Armeen, die Wahrheit über das Jahr 1968 und über die „Normalisierung“, die Freilassung politischer Häftlinge, die Aufhebung der Zensur, die Ermöglichung der Publikation unabhängiger Zeitschriften und die Beseitigung der Hindernisse für die Tätigkeit der Bürgerinitiativen. Einige Leute waren überrascht, da junge Demonstranten, von denen viele im Jahre 1968 nicht einmal geboren waren, nicht nur nach Freiheit riefen, sondern außer dem Namen des ersten Präsidenten der Republik, Tomás G. Masaryk, auch den Namen des Repräsentanten des Prager Frühlings, Alexander Dubcek, also den eines Kommunisten, der bis heute seine kommunistische Überzeugung nicht aufgab, skandierten.
Bei soviel Widerwillen gegen die Praxis des Regimes und den Begriff „Kommunismus“ an sich, vor allem bei der jungen Generation, kann man also mit Berechtigung annehmen, da ein großer Teil der aktiv werdenden Gesellschaft konsequent antiideologisch ist. Es geht ihr nicht um „Etiketten“ - wie viele verschiedene Arten von Kommunismus, Sozialismus, Liberalismus, Kapitalismus, Demokratie usw. gab es denn übrigens nicht schon – sondern um die Hoffnung auf die Perspektive einer freien Entwicklung. Trotz aller Unzulänglichkeiten der Vorkriegsrepublik und des Prager Frühlings haben gerade diese Zeiträume in den Augen der jungen Generation die Prüfung bestanden. Obwohl die Jugend oft nur wenig oder gar nichts über das Werk von Masaryk oder die Konzeption von Dubcek weiß, sind diese für sie die Personifikation der Hoffnung. Das bedeutet nicht, daß die erste Republik oder der Prager Frühling zurückkehren könnten. Hier liegt auch ein Teil der Antwort auf die Frage, was heute noch vom Prager Frühling übrigbleibt: Er ist ein Teil der Tradition, auf welche man sich in unserer neuzeitlichen Geschichte stützen kann – bei der Suche nach einem Ausweg aus dem heutigen Marasmus zu einer dynamischen Entwicklung der sich befreienden Gesellschaft. Der zwanzigste Jahrestag hätte auch den sowjetischen Umgestaltern die Gelegenheit geboten, sowohl zu Hause als auch auf dem internationalen Forum an Glaubwürdigkeit zu gewinnen, indem sie zu einer Verurteilung der Invasion gekommen wären und die Erkenntnis offengelegt hätten, da die „Perestroika“ schon einmal dagewesen ist – eben in der Tschechoslowakei von 1968. Sicher ist es möglich, die inneren Schwierigkeiten der sowjetischen Protagonisten zu tolerieren. Die Zeit wartet jedoch nicht. Eine weitere negative Erfahrung mit dem, was aus Moskau kommt, könnte die Standpunkte der Völker Mittel- und Osteuropa wieder verschieben. Dabei steht nicht nur das Schicksal der Tschechoslowakei, sondern auch das der sowjetischen Reform selbst auf dem Spiel. Die tschechoslowakischen Bürger erwarten nicht, daß die Sowjetunion durch einen neuen Eingriff zumindest nachträglich die durch die Invasion vor zwanzig Jahren angerichteten Schäden wiedergutmacht. Es kommt letztendlich auf ihre Verantwortung für ihr eigenes Land an. Die sowjetischen Reformer begehen aber einen unverzeihlichen Fehler, wenn sie es ablehnen, sich auf die Äußerungen des gesellschaftlichen Willens zu stützen, der im Prinzip in die gleiche Richtung zielt, nämlich der Herausbildung pluralistischer Strukturen, in denen sich die verschiedenen Interessen und Wünsche, die Bedürfnisse jedes Volkes, jeder gesellschaftlichen Gruppe und jedes einzelnen ergänzen, gegenseitig tolerieren und zusammenwirken.“ (zuerst erschienen in deutscher Übersetzung in OSTKREUZ 1/1989, Nachdruck in I.-S. Kowalczuk (Hg): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985-1989, Berlin 2002; siehe auch C. Dietrich: "Jiří Dienstbier lebt nicht mehr" und ein Nachruf zum Tod des ersten tschechoslowakische Außenminister nach der „Samtenen Revolution“ auf Frankfurter Rundschau online)
Bis heute ist die kritische Auseinandersetzung mit der militärischen Intervention und der Beteiligung vieler Bürger am kommunistischen Terror in unserem Nachbarland keine Selbstverständlichkeit.